Shadow Files 22 – Das Auge des Waldes und neue Gefährten

Liam wacht auf. Sein Hinterkopf schmerzt gewaltig. Er erinnert sich an zuhause, dann dieser Wald und dann au!

Es riecht nach Wald – verbranntem, vermoderten Wald und es ist dunkel. Das könnte daran liegen, dass seine Augen verbunden sind. Und gefesselt ist er auch, an irgendeiner Stange. Er stöhnt auf. Darauf hört er platschende Schritte näherkommen und spürt einen unsanften Stubs in die Rippen. Eine komische Stimme sagt etwas in einer fremden Sprache und die Schritte entfernen sich wieder.

Der Geruch ist unerträglich und Liam stemmt sich gegen die kruden Schnüre, die seine Hände hinter diese Stange binden. Wieder sind Stimmen zu hören, diesmal mehrere, und sie kommen näher. Endlich gelingt es ihm, die Schnüre zu zerreißen und sich die Augenbinde runterzuziehen, nur um in die Gesichter von drei albtraumhaften Wichteln zu blicken, die ihm ihre Speere in den Bauch strecken [major compilcation].

Da ertönt plötzlich lautes Hundegebell, was die drei unwirklichen Kreaturen offensichtlich zu irritieren scheint.

Max und Goran schauen sich verwirrt an, doch sie müssen jetzt handeln. Max zieht sich aufs Dach und huscht über das morsche Holz. Auf dem Platz vor dem Haus sieht er den riesigen Ronan-Hund, der mit seinem Gebell die Aufmerksamkeit auf sich zieht. In einem dunklen kleinen Haus gegenüber kann er durch die Tür eine menschliche Gestalt erblicken, die offenbar von ein paar Wichteln mit Speeren bedroht wird. Bevor er mehr in Erfahrung bringen kann, gibt das vermoderte Dach unter seinem Gewicht nach und er kracht in die Tiefe [compel].

Dort fällt er Goran in die Arme, der sich seinen Weg durch die Wand des Hauses gebahnt hatte. Und nun stehen sie mitten in den Schätzen des überraschten Wichtelkönigs, angestarrt von einem zögernden Königswächter und einer aufrecht stehenden Schildkröte mit einer Axt in der Pranke. Eine unerwartet weiche und tiefe Stimme klingt aus der Kehle der sonderbaren Kreatur, doch genauso unerwartet und schnell schwingt sie die riesige Axt, wobei sie Spuren von irgendwas Rotem in die Luft zeichnet. Max kann sich im letzten Moment unter einem gewaltigen Schwinger wegducken und wird nur leicht touchiert.

In der anderen Hütte wirft sich Liam mit vollem Gewicht gegen den Stützbalken, an den er gerade noch gefesselt war und mit lautem Geknirsche und Geberste verdreht sich erst die ganze Konstruktion, um dann in sich zu kollabieren [major complication]. Unterbewusst murmelt Liam ein paar Worte, die ihm selbst unverständlich vorkommen und beobachtet verwundert, jedoch nicht völlig überrascht, wie sich blitzschnell dicke Wurzeln aus dem schlammigen Boden aufrichten und sich schützend gegen die herabfallenden Balken und Hölzer stemmen. Seinen Wichtelbewachern erging es nicht so glimpflich, sie liegen tot oder zumindest bewegungslos unter den Trümmern. Aus seinem Trümmerhaufen kann Liam eine ganze Horde Wichtel erkennen, die den Hang hinunter gerannt kommt und wenn sich auch die meisten auf den riesigen bellenden Hund stürzen, kommen doch einige direkt auf ihn zu. Die kleinen Albtraumgestalten drängen mit ihren Speeren auf ihn ein und wieder wachsen mit unnatürlicher Geschwindigkeit Wurzeln aus dem Boden und geben ihm Schutz. Das ist kein Zufall mehr, er kann die Natur mit seinen Gedanken kontrollieren! Faszinierend, aber auch sehr ermüdend. Mit einer großen Kraftanstrengung lässt er das schwere Gehölz um sich peitschen und zertrümmert die Schädel zweier Angreifer, aus denen eine Art schwarzer Nebel entweicht. Ein weiterer Wichtel geht schwer verletzt zu Boden.

Im Häuplingshaus fasst sich der Königswächter ein Herz, schnappt sich ein hölzernes Schild und stellt sich zum Schutz vor den König, der panisch mit irgendetwas nach Goran wirft. Die überdimensionale Ninja-Turtle führt eine Art Kata vor, immer noch mit ruhiger und weicher Stimme vor sich hin sprechend. Max nutzt die Gelegenheit und wirft sich mit vollem Schwung in den Königswächter, reißt ihn um und purzelt mit ihm zur Seite, wobei dessen Speer davonfliegt. Goran nutzt die Lücke, spurtet zum König und hält ihm einen etwas rostigen eisernen Dolch an die Kehle. Es ist ein Erbstück von seinem Großonkel, den er eigentlich als Glücksbringer von der Wand gepickt und eingesteckt hatte, bevor er von zuhause aufgebrochen war.

Die finstere Aura des Wichtelkönigs greift auf Goran über und die unnatürliche Kälte kriecht ihm in die Knochen, doch er beißt die Zähne zusammen und hält den König in Schach. Der schreit panisch auf und hat offensichtlich höchsten Respekt vor der kruden Klinge. Mit knurrender Stimme spricht Goran etwas auf Serbisch und niemand muss die Sprache kennen, um zu verstehen, was er meint. Der König keift etwas, und alle Wichtel und auch die Schildkrötenkreatur lassen die Waffen sinken.

Hektisch schaut Max sich um, doch er hat keine Ahnung, wie er das Auge des Waldes erkennen soll, geschweige denn, wo es zu finden ist. Ein hechelnder und schwanzwedelnder Ronan-Hund kommt dazu und schaut ihn ermunternd an, was für Max nur noch verwirrender ist.

Die Wichtel am Eingang weichen murrend zur Seite und Liam betritt den Raum. Goran faucht ihn misstrauisch an und er bleibt zögernd stehen. Max, der sich an die von Wichteln bedrohte menschliche Gestalt erinnern kann, fragt ihn umgehend nach dem Auge des Waldes und Liam deutet unvermittelt auf einen Schädel unter dem Thron des Königs. Da Max nicht versteht, was er meint, geht er unter Gorans strengem Blick vorsichtig auf den Thron zu. Der König zappelt ungeduldig und versucht sich zu befreien, doch Goran kann ihn mit eisernem Willen unter Kontrolle halten.

Liam reißt einen Schädel aus dem Fundament des Thrones und holt aus dessen Innern einen wunderbar strahlenden Bernstein heraus. Ehrfürchtig und ein wenig besitzergreifend hält er das Kleinod in die Höhe. Goran und Max verlangen den Stein, doch er hält ihn fest und beginnt mit tiefer Stimme in einer fremden Sprache zu sprechen. Das Holz des Stützbalkens, an dem die Schildkröte festgekettet ist, und der Bodenbretter darum erwacht zu neuem Leben, nimmt eine gesunde Farbe an, und frische Äste sprießen hervor. Ein Ast wächst in die Kette, legt sich um das geschundene Bein des Krötenwesens und weitet die Schelle, bis der Verschluss mit einem Knall aufreißt und die Kette klirrend zu Boden fällt. Übrig bleibt ein duftender Rosenstrauß und eine humanoide Schildkröte, die verdutzt an sich herunterschaut, sofern man so etwas in einem Echsengesicht lesen will.

Etwas widerwillig lässt Liam den warmen Stein in Max ausgestreckte Hand fallen, während die Wichtel die Flucht ergreifen. Goran schubst den garstigen Wichtelkönig in den Rosenbusch und treibt seine Freunde und Mitmenschen nach draußen. Dort stolpert Max über den zutraulichen Igel und Liam nutzt die Verzögerung, um dem nun befreiten Schildkrötenwesen einladend zuzuwinken. Tatsächlich folgt das Ungetüm der Gruppe mit schweren Schritten in den Wald.

Nachdem sie etwas Distanz zwischen sich und die verfaulte Wichtelsiedlung gebracht haben, macht die bunte Reisegruppe eine kurze Rast und stellt sich erstmal gegenseitig vor. Das Schildkrötenwesen namens Klork spricht die Sprache der Menschen und erklärt sich bereit, die Gruppe zu begleiten. Es genießt offensichtlich die Freiheit und den Wald und versorgt sein geschundenes Bein mit Blättern und Kräutern.

Liam kommt tatsächlich von der Erde. Er wohnt in Heidelberg und hat die Erde beruhigenderweise im gleichen Jahr verlassen wie die drei anderen. So kurz es möglich ist, weisen Goran und Max ihn auf die Besonderheiten des Waldes hin. Ronan ist immer noch in der Gestalt eines Hundes. Er huscht nochmal ins verlassene Wichteldorf und hold die Feder, die er von den Fantasiegestalten an der Weggabelung erhalten hat. Er scheint sie nicht mehr zu benötigen und übergibt sie Liam.

Zusammen machen sie sich zurück zum Weg und zu der Gabelung, wo sie tatsächlich von den beiden Waldeinwohnern erwartet werden. Nach einer kurzen Diskussion übergibt Max den Stein an Uschtu, worauf der ihnen rät, sich nach rechts zu wenden, um nicht “in den sicheren Tod” zu laufen. Liam studiert die Schilder, die an der Weggabelung aufgestellt sind und erkennt eine kultische Schrift, die von einem Autor des 17. Jahrhunderts als Feenschrift dokumentiert und seinerzeit als Fantastereien abgetan worden war. Auf den Namen des Autors angesprochen sagen Uschtu und Jesipus, dass der Mann in dem Wald viele Jahre verbracht und studiert hätte. Das Schild sagt soviel wie “Gefahr voraus”.

Mit dem etwas mulmigen Gefühl, ob der Ratschlag der Waldwesen den ganzen Aufwand Wert war und was da noch so alles auf sie wartet, machen sich Goran, Max und die anderen auf den Weg zur Rechten.

Liam möchte mehr über seine neuen Gefährten erfahren und Max erzählt bereitwillig Abenteuergeschichten von vor und nach dem Schleier. Goran hingegen will seine Geschichte lieber für sich behalten und so wendet sich Liam gerade an die Schildkröte, um mehr über sie zu erfahren, als diese warnend die Pfote hebt und Ronan sich nervös umdreht. Aus der Ferne ist Singen zu hören.

Ersten Kommentar schreiben

Antworten