Shadow Files 19 – Ein unwirtlicher Wald

Die Knochen sind gefallen, genauer gesagt ein Potpourri verschiedenster knöcherner Symbole aus allen Epochen der Weissagerei. Für die Eingeweihten stellt das Ergebnis eindeutig einen Wald dar und ein Knöchelchen steht wie ein Turm heraus: der Turm, den die Reisenden in der Waldwelt Toran suchen müssen, um schließlich zurück auf die Erde zu gelangen.

Während der seltsame Baron in seinem immerwährenden stummen Tanz den zauberhaften Atlas wieder einpackt, tratscht der König noch ein wenig mit den überwältigten Erdlingen. Er behauptet, nicht viel von all diesen Dingen zu verstehen. In dem Moment kehrt der riesige Gorilla mit einem sehr alten Mann in bunter Kleidung und einer mächtigen Rasta-Mähne im Schlepptau zurückkehrt.

Er wird als Samhain vorgestellt und ist mit Dodo aus einer völlig anderen Zeit gekommen. Sie hätten einen Riss geflickt und damit seien willentliche Zeitreisen in dieser Form nicht mehr möglich, insbesondere rückwärts. Vorwärts aber in gewissen Sinne schon, denn die Zeit läuft unterschiedlich in verschiedenen Ebenen. So kann es sein, dass, wenn man etwas Zeit in einer “langsameren” Ebene verbringt, man bei der Rückkehr in eine schnellere Ebene Jahre überspringt.

Auf die Frage, wo auf der Erde die Reisenden wieder rauskommen, wenn sie es durch die Waldwelt geschafft haben, stellt Samhain die Gegenfrage, wo sie denn hinwollen. Offenbar ist das alles nicht so einfach und kann sogar für jeden Reisenden und zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich sein. Als er von Monsterhöhlen in Osteuropa hört merkt er an, dass es dort ungewöhnliche Aktivitäten auf transzendentaler Ebene zu geben scheint, deren Auswirkungen sogar bis Umbanda zu spüren sind. Er eilt aus dem Thronsaal, weil er etwas nachschauen möchte.

Ronan nutzt die Zeit und erzählt die ganze Seveso-Geschichte. Interessanterweise kann der Märchenkönig aus der anderen Zeit und Ebene offenbar sehr gut nachvollziehen, was dort auf der Erde vor sich geht und ermutigt die Reisenden, der Sache weiter auf den Grund zu gehen. Als Samhain zurückkehrt, schleppt er einen unglaublich riesigen Almanach in einem mittelalterlich anmutenden Ledereinband mit sich heran, legt ihn Yari-Yari auf den Rücken und blättert bedeutungsvoll darin. Er findet einen Eintrag zur Monsterhöhle, über die die Helden berichtet haben. Dort scheint ein permanentes Tor zu sein und es ist wohl auch das Zentrum der schon genannten ungewöhnlichen Aktivitäten. Er schlägt vor, dass die Helden über Meron Botha oder die Mystiker von Mara mit Umbanda im Kontakt bleiben sollen, wenn sie mit ihren Untersuchungen weiterkommen. Aus den Untiefen seiner bunten Kleidung kramt er ein schnödes spiralgebundenes Notizbuch und einen Kugelschreiber mit Amazon-Werbung hervor und kritzelt etwas hinein, reißt den Zettel heraus und drückt ihn Max in die Hand. Erstaunt erkennt Max zwei gewöhnliche irdische Kontake mit Telefonnummer und E-Mail-Adresse auf dem karierten Zettel. Als er witzelnd fragt, ob sie hier vielleicht irgendwo einen Rechner mit Internet-Zugang haben, antwortet Dodo durchaus ernst, dass sie schon Computer von Katzen bedient haben in der Zukunft, aus der sie gekommen sind.

Es bricht eine kurze philosophische Diskussion über Zeitreisen und die Möglichkeit, die Zukunft zu verändern, aus. Samhain erklärt, dass die Geschichte nicht unbedingt in die gleiche Zukunft münden muss, wie Dodo und er sie erlebt haben. Der König Umbandas hilft mit einer klaren Erklärung: “Die Scheiße fällt immer nach unten, aber du kannst wählen, ob du ins Klo scheißt oder daneben.”

Samhain klappt sein großes Buch zu und erklärt, dass es zwar unveränderliche physikalische Gesetze gibt, aber es dennoch viele Wahlmöglichkeiten gibt, die letztendlich den Verlauf der Geschichte beeinflussen. Dies führt zu der Frage, in welcher Zeit die Reisenden auf die Erde zurückkehren werden. Da die Zeit in Umbanda ähnlich fließt wie auf der Erde, ist der früheste Rückkehrpunkt etwa um die gleiche Zeitspanne, die sie in Umbanda verbracht haben, nach ihrer Abreise versetzt. Je nach Ebenen/Welten und Toren, die sie auf dem Weg durchqueren, können sie aber auch viel weiter in der Zukunft ankommen. An sich birgt die Wechselei zwischen den Welten wohl durchaus einige Gefahren. Wenn es blöd läuft, könnte man auch mit dem Durchschreiten eines Tores den gesamten Alterungsprozess der nächsten 100 Jahre erfahren, also als ein Häufchen Staub ankommen.

Mit diesen freudigen Aussichten geleitet Dodo seine Gäste zur Tür und verabschiedet sich mit den ermunternden Worten, dass er hofft, dass sie sich wiedersehen. Sie werden von einem der Wächter in ihr Quartier gebracht, um ihre Sachen zu richten. Auf dem Weg erhaschen sie einen Blick durch eine der geheimnisvollen Türen und können erstaunt in eine riesige, hell erleuchtete Höhle blicken, deren Boden mit einer wunderbar duftenden bunten Blumenwiese bedeckt ist.

Während sie sich über all die neuen Eindrücke unterhalten, spielt Max gedankenverloren mit dem seltsamen Schwertgriff herum, der sich in Slobodans Hand in eine messerscharfe Katana verwandelt hatte. Mit einem Mal schießt eine Messerklinge daraus hervor, verwandelt sich nacheinander in eine nagelgespickte Keule, einen Krummsäbel, einen modernen Schlagstock, einen Eispickel, verliert wieder seine Form und wird immer länger, bis der verdutzte Max eine kurzgriffige Bullenpeitsche in der Hand hält. Testweise lässt er sie schnalzen, fängt an, den Titelsong von Indiana Jones zu summen und malt mit ein paar geschickten Impulsen aus dem Handgelenk verschiedene Formen in die Luft. Als er das Ding wieder hinlegt, bleibt es eine Peitsche. Das Material wirkt modern, wertiger Kunststoff und vielleicht Carbon, doch es bleibt eine Peitsche und die Form und Haptik des Griffes erinnert eindeutig an den ranzigen Lederbegleiter des bekannten Filmhelden. An der Stelle, an der Max den Griff mit seinem vom irren Baron angepieksten Finger gegriffen hat, fällt eine rötliche Einfassung auf [Neuer Stunt für Max: Indys Peitsche].

Goran erinnert die anderen daran, ihre Ausrüstung zu prüfen, zu packen und die Reste des Frühstücks als Proviant mitzunehmen. Samhain holt sie ab, um sie zum Tor in die Waldwelt zu führen. Auf dem Weg erwähnt er beiläufig, dass der gesuchte Turm nicht unbedingt ein Turm im wortwörtlichen Sinne sein muss. Es muss die Aufgabe eines Turms erfüllen, könnte also zum Beispiel auch ein hoher Baum sein – ein Baum in einem Wald … Auch die weiteren Informationen, die er über die Waldwelt Toran fallen lässt, sind nicht unbedingt ermutigend: Der Weg zum Turm kann eine Stunde oder ein Jahr dauern, die Welt ist für jeden anders.

Nach einem länglichen Weg durch Umbandas Höhlenlabyrinth passieren die Reisenden zwei Wächter. Einer ist mit einem Schwert bewaffnet, der andere erscheint unbewaffnet. Dieser spricht Goran in gebrochenen Englisch an “Du hast Bruder geholfen” und überreicht ihm eine Eichel. Goran weiß nicht so recht, was er mit diesem Geschenk anfangen soll, bedankt sich aber höflich und steckt sie ein. Sie erreichen ein Portal, das Samhain mit einem Schlüssel von einem dicken Schlüsselbund öffnet. Kühle, klare Luft strömt ihnen entgegen, aber das ist nicht der alleinige Grund, warum sich den Reisenden alle Nackenhaare aufstellen. Max fällt auf, dass die Peitsche an seinem Gürtel zu Leuchten beginnt.

Im diesigen Licht können sie eine natürliche Höhle erkennen, in der ein Kreis aus sehr unterschiedlichen Menhiren aufgestellt ist. Jeder Stein ist anders und trägt völlig unterschiedliche Symbole. Sie scheinen aus verschiedensten Kulturkreisen zu stammen. Samhain berührt einen großen, Donat-förmigen Stein und mit einem Mal ist dort ein Loch im Raum, durch das man in einen Wald blicken kann. Ronan fasst seinen Mut zusammen und schreitet durch das Loch. Als Goran und Max noch zögern, beginnt sich der Stein wieder an der Stelle des Tors zu manifestieren. Bevor es also wieder zugeht, eilen sie Ronan hinterher. Mit einem Blick zurück können sie gerade noch Samhain in der Höhle sehen, der mit einer weitern Handbewegung das Tor wieder verschließt.

Sie stehen in einem fremden Wald auf einer kleinen Lichtung, auf der fünf sehr alte und moosbewachsene Steine gleicher Art in einem Kreis aufgestellt sind. Kein Weg ist zu erkennen. Max macht sich daran, auf einen der Bäume zu klettern, um einen Überblick zu bekommen. Goran merkt an, dass sich ein dorniger Busch auf der Lichtung bewegt hätte und auch Ronan fühlt sich vom Wald beobachtet. Der Wind und die Blätter klingen wie ein Getuschel, als ob sie sich unterhalten würden. Behende klettert Max an einem großen Baum hoch, doch bevor er sich richtig umschauen kann muss er einem großen Ast des Nachbarbaumes ausweichen, der ganz offensichtlich direkt nach ihm geschlagen hat. Im selben Moment spürt Goran, wie junge Äste und Wurzeln, die vom gleichen Baum stammen, nach ihm greifen und beginnen, ihn einzuwickeln. Auch Ronan wird attackiert, der Dornenbusch schleudert einen Schauer spitzer und auch giftiger Dornen auf ihn. Zum Glück wird er nicht ernsthaft verletzt. Wütend reißt Goran sich los und lässt eine kroatische Fluchtirade vom Stapel.

Aus seiner erhöhten Position kann Max erkennen, dass sich der Dornenbusch und auch der aggresive Baum tatsächlich bewegt haben. Zwar müssen sie mit ihren Wurzeln mühsam und durch das Erdreich pflügen, aber sie sind nicht an einem Ort festgewachsen, wie es sich für ordentliche Pflanzen gehört. Neben der Lichtung kann er auch einen fast zugewachsenen Pfad erkennen, der sich von der Lichtung in den Wald schlängelt. Etwa 30 Meter entfernt steht ein abgestorbener Baum, auf dem sich ein Schwarm schwarzer Krähen niedergelassen hat und direkt dahinter kann Max etwas wie ein Hirschgeweih erkennen, dass auf einem bleichen Knochenschädel zu sitzen scheint und es sieht so aus, als ob es sich dort versteckt.

Goran voran, bahnen sich die am Boden Gebliebenen einen Weg durchs Unterholz, möglichst weg von den unliebsamen Angreifern, die zum Glück nicht so schnell folgen können. Max schnalzt die Peitsche zu einem benachbarten Baum, wo sie sich an einem kräftigen Ast verfängt, und schwingt sich in Indiana-Jones-Manier über die Köpfe der anderen hinweg nach vorne. Mit einem eleganten Salto landet er auf einem dicken Ast vor ihnen, wickelt die Peitsche mit einer Handbewegung wieder an seine Seite und kann sich eine kleine Verbeugung nicht verkneifen.

Etwas weiter im Wald stoben unzählige schwarze Krähen auseinander und mit lautem Knirschen und einem Geräusch von berstenden Holz richted sich eine Art Baumwesen mit knöchernem Schädel und Hirschgeweih auf. Mit einer ruckartigen Bewegung schleudert es Unmengen von allem, was dort lose im Wald lag, auf die Neuankömmlinge. Steine, Äste, Moosklumpen prasseln auf sie ein und Max muss von seinem Ast herunter in Deckung springen.

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