Kapitel 9: Zahlen und Namen

Jesus Christus, wo hat es mich hier nur hinverschlagen? Selbst die Schwarzen in unseren afrikanischen Kolonien und die Wilden im Amazonas haben mehr Kultur als diese marsianischen Barbaren. Es mag ihnen verziehen sein, dass sie Heiden sind, aber ihre bodenlose Überheblichkeit, ihre mangelnden Sitten, fehlender Anstand und gnadenlose Rückständigkeit machen mir den Besuch auf dem Mars zu einem immer widrigeren Erlebnis. Hinzu kommt, dass ich der im Oxford Journal aufgestellten These von Christian Freiherr von Ehrenfels, Frauen hätten dem Manne ebenbürtige geistige Fähigkeiten, aus empirischer Sicht aufs vehementeste widersprechen muss. Ich wünschte sogar, der ungehobelte Mr. Summerset – Gott habe ihn selig, wo immer er auch sei –, wäre wieder Teil der Mission und führte die Verhandlungen fort. So aber werden wir der britischen Krone nicht zu Ruhm und Ehre verhelfen. Und dann wäre da noch dieser vermaledeite Klugscheißer Dr. Menger … Aber eins nach dem anderen.

Unsere neuen Untergebenen werkeln wie fleißige Ameisen und richten unsere Botschaft und die daran angeschlossenen Gemächer im Nu ein. Lady Greyhound veranlasst die Einrichtung unseres hauseigenen Heliographen – schließlich soll das britische Imperium schnellstmöglich von unseren ersten ehrbaren Erfolgen erfahren. Bis der komplexe Apparat und die Gegenstelle betriebsbereit sind, werden allerdings noch etwas 80 Tage vergehen. Der fleißige Mr. Thurgood kümmert sich nicht nur um ein mithörsicheres Besprechungszimmer, sondern zieht auch die beiden Marine-Soldaten Barnes und Smith von ihrem Posten ab und lässt sie hier in der Botschaft Stellung beziehen. Mr. Wright waltet ebenfalls seines Amtes und überprüft die angelieferten Waren aufs Genauste – wer weiß, was die Marsianer im Schilde führen? Leider wird mein Wunsch auf ein respektables und der britischen Krone angemessenes Forschungslabor von Lady Greyhound erst noch einer monetären Prüfung unterzogen. Ich werde warten müssen …

Über die stets hilfsbereite Sirkiis erbitten wir am Abend eine Audienz bei König Orthai. Ich ziehe mich in mein Gemach zurück, in mein sehr sauberes wohlgemerkt, und setze meine Arbeiten am Luxrefractivator-Netz und dem Prototypen des Exergonischen Vitrumvisator-Wurfkörpers fort. Leider verläuft meine erste Präsentation des Kopfnetzes nur bedingt befriedigend. Es kommt zu einer Fehlfunktion und nach anfänglicher Euphorie wird plötzlich lediglich nur noch meine Kleidung vor bloßer visueller Wahrnehmung verschleiert. Zum Glück reagiert die gute Clara geistesgegenwärtig und mindert meine Schmach durch das Zuwerfen eines Vorhanges.

Abends müssen wir erneut mit diesem anstandslosen Clown von einem König und seinem primitiven Prinzen dinieren. Zucht, Moral und Sitte sind diesen Marsianern völlig fremd und es kommt mir so vor, als habe ich es nicht mit politischen Verhandlungen zu tun, sondern mit einem naiven Kasperletheater für die zurückgebliebene Unterschicht. Tatsächlich will König Orthai nicht einmal persönlich die Nirabinischen Konsultationen begehen, sondern lieber seinem überbordenden Geschlechtstrieb nachgeben. Stattdessen müssen wir uns mit diesem unsäglich unhöflichen Prinz Piookrihaa Purimin II. herumschlagen. Doch leider stellt sich das Verhandlungsgeschick unserer Diplomatin, Lady Greyhound, als wenig hilfreich heraus. Zwar gelingt es ihr, den Prinzen davon zu überzeugen, mehr als einfach nur 30% Gold in den Vertrag einzubringen, aber von den zwei Bataillonen und den 30% Flugholz sind wir noch meilenweit entfernt. Es bleibt bei 50% Gold, einem Bataillon und 10% Flugholz. Immerhin bekomme ich einen „Vorbrüller“ gestellt, der mir die unerfreulichen und ermüdenden Argumentationen detailliert mitteilt. Manchmal ist es von Vorteil nur die Hälfte mitzubekommen. Über den Rest des Abends möchte ich ein beschämtes Tuch des Schweigens hüllen, aber immerhin bietet uns der selbstüberschätzende marsianische Prinzenfatzke einen Barkenflug zum heiligen Flugholzbaum an.

Den nächsten Tag verbringen wir mit Zahlen und Namen. Was kann es Unerfreulicheres geben, als sich mit Nebensächlichkeiten und niederen Möchtegernwissenschaften wie der Geschichte oder Anthropologie zu beschäftigen? Hinzu kommt, dass die Marsianer von ihrer Hochkultur höchst überzeugt sind, dennoch nichts Vernünftiges oder Nennenswertes mehr zustande bringen. Sie zehren lediglich von den unglaublichen Errungenschaften ihrer Vorfahren, doch sie selbst sind nichts mehr als ein degeneriertes und bemitleidenswertes Volk aus Bauern und Scharlatanen. Wäre der Mars nicht so weit weg, hätte das britische Imperium diesen Ort längst zu einer für alle Beteiligten nützlichen Kolonie erklärt. Um den Tag in der durchaus beeindruckenden Bibliothek oder dem Archiv noch unerträglicher zu gestalten, taucht wie aus dem Nichts auch noch der vermaledeite Dr. Menger auf, jener verblendete Wissenschaftler, der im Verbrennungsmotor der beiden Deutschen Benz und Daimler das Antriebsmittel der Zukunft sieht. So ein bodenloser und unhaltsamer Schwachsinn! Wieso sollte der Mensch auf ein Fortbewegungsmittel setzen, das giftigen und stinkenden Rauch ausstößt und beweisbar krank macht? Reicht es nicht, dass in vielen Fabrikanlagen stinkende Schlote rund um die Uhr giftigen Qualm ausstoßen und die Kinder der Arbeiter krank machen? Kurzum, Menger ist ein Kretin und die Zukunft wird ihn eines Besseren belehren! Großkotzig wie er eben ist, lädt er mich und meine Begleiter nach Petkum in den Süden der Nebelfelder ein.

Zum Glück gelingt es mir, den hohen Archivar davon zu überzeugen, dass ich sechs Gehilfen brauche, um unsere Recherchen zu einem erfolgreichen Ergebnis zu führen. Dr. Menger wird wegen seiner Unverfrorenheit für eine Woche der Einrichtung verwiesen. Ha!

Zehn volle Stunden verbringen wir in der Bibliothek und fast hätten wir den 5-Uhr-Tee vergessen! Wir haben eine Handvoll Dinger herausbekommen:

  • Arina-Steine sind heilig und jeder Staat benötigt einen
  • Der Ringspiegel ist mehr als 2000 Jahre alt und spielt die Botschaft über die Verkündung der Macht ab (so denn alle drei Scherben des Arina-Steines vorhanden sind), wurde aber leider zerstört
  • Der Fluch der Toten Augen hat etwas mit Geistern und vielleicht auch verpesteter Luft zu tun. Er brach in allen Überlieferungen immer innerhalb der Mine in Explorationszone Q6-SW5 aus.
  • Hat ein Sibituus bei den Steppen-Marsianern überlebt und läutet vielleicht irgendwann ein neues Zeitalter ein? Sie sollen Katzenaugen haben!
  • Die Goldene Gilde ist von hoher Wichtigkeit und darf alle Funde der Minengilde kaufen und weiterverwerten 
  • Die Priesterschaft wartet auf Erleuchtung durch das Christentum.
  • Haus Piookrihaa beherrscht die Lüfte und eigentlich nahezu alle anderen Soldaten, sie stellen den aktuellen Kanalprinzen
  • Von Haus Goonavala war der zweite Held und Herr des Wissens. Sie stellen die Verwaltung der Bibliothek und kümmern sich um die Wiederbelebung der marsianischen Technik. Die Arbeiterbedingungen wurden immer wieder verbessert und es gab sogar einmal einen Vorstoß gegen die Sklaverei.
  • Der Kanalprinz muss aus den ursprünglich drei hohen Häusern stammen und erhält den Titel auf Lebenszeit. Wird jedoch das Konzil neu zusammengestellt, muss auch der Posten neu besetzt werden.
  • Teem ist ein reines Strategiespiel, bei dem Glück keinerlei Rolle spielt [darf mit SMARTS gespielt werden und ich erhalte ein +1 durch das erlernte Wissen]. Im Bezirk “Hooiryk 7” (übersetzt etwa “Fortuna 7”) kann man einiges damit erspielen!

Auf dem Nachhauseweg hat der Markt zum Glück geschlossen, denn sonst hätten wir uns einige weitere langwierige Diskussionen unserer beiden weiblichen Begleiter anhören müssen, ob denn Hosen oder Kleider manierlicher sind. Wie ermüdend und trivial! Ein wenig ermattet machen wir einen Umweg zu den Aufständen in Bezirk 5, von denen wir bereits heute Morgen von Madame Gronkh erfuhren – schließlich erschienen einige Arbeiter nicht. Wir treffen dort auf den ominösen Pengaah, der uns darauf ansetzt, herauszufinden, wer den Aufstand angezettelt hat. Clara lässt sich dazu verleiten, entgegen unserer Abmachung nicht zu sehr in die politischen Geschehnisse einzugreifen, eine schwungvolle Rede über Gott und die Welt zu halten. Leider versteht das Volk nur, was es verstehen will. Und so wird ihre etwas bemüht wirkende Erklärung zur Allmacht Gottes mit dem Spruch „legt dem Adel die Ketten an“ zu einem Selbstläufer. Aber immerhin erfahren wir, dass Luukotiaa Leefas, der Sekretär des Hauses Goonavala, der Anstifter der Aufstände ist.

Peter Sailer
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Nihilistischer Weltverbesserer

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