Kapitel 27: Erwachen im Reich der Gewalt

Als wir die Köpfe wieder heben, sehen wir, dass die Flugmaschine auch in den Graben geschossen und dabei zwei der Soldaten zerfetzt hat. Über uns ist der Himmel plötzlich voll von kleinen und großen Flugmaschinen und den Geschossen, die die Dinger aufeinander abschießen. Flip meint, dass dort zwei verschiedene Parteien gemeinsam gegen eine dritte kämpfen. Wir versuchen, uns an die Wand des Schützengrabens zu drücken und in Deckung zu gehen.

Mit lautem Brummen nähert sich eins von den dicken großen Flugschiffen, das wie eine riesige Zigarre von Ougun aussieht. Aus einer gepanzerten Kanzel, die unten dran hängt, ballert es in alle Richtungen, vor allem auf die kleineren Flugmaschinen drumherum. Außerdem hat es zwei grelle Lampen, mit denen es den Boden absucht und man kann Menschen erkennen, die so etwas wie Granaten runterwerfen.

Flip meint, dass das Ding in unsere Richtung kommt und uns bald erreichen wird. Außerdem hat er noch ein weiteres Fluggerät entdeckt, das anscheinend auch den Boden nach Zielen absucht. Auf den beiden Flugdingern erkennt er die gleichen Symbole wie bei den Soldaten, die bei uns sind.

Er fragt den Soldaten, der unsere Sprache spricht, ob das Ding zu seinen Leuten gehört. Der völlig verängstigte Mann bestätigt das, doch mehr sagt er nicht. Ich gehe auch dazu und versuche aus ihm rauszukriegen, wo es Schutz gibt. Der Soldat sagt, es gäbe keinen.

Das ist alles verrückt, aber irgendwie müssen wir weg hier. Während Robin sich in Richtung “Westen” aufmacht, zeigt Evelyn in die andere Richtung und ruft etwas von einem Schutzwall aus Ballons, die auf die Fluggeräte schießen. Wir sollten besser dorthin. Und während wir noch zögern schreit sie plötzlich auf und zeigt nach oben. Mit einer schwarzen Rauchwolke stürzt eins von diesen seltsamen Flugdingern direkt auf uns herab.

Wir stürzen los. Der riesige Flip schnappt sich den kümmerlichen Soldaten mit zwei seiner vier Arme und trägt ihn einfach mit sich. Ich versuche noch den anderen Soldaten mitzuschleifen, doch der hat sich vollkommen eingeigelt und ich krieg ihn nicht richtig zu fassen. Bevor mir das Ding auf den Kopf fällt, stürze ich davon und höre das Krachen hinter mir. Ein kurzer Blick zurück zeigt mir, dass von dem Graben, in dem wir eben noch Schutz gesucht haben, nicht mehr viel zu erkennen ist.

Vor uns ist der Graben voll mit Körpern, zum Teil zerfetzt, bei einigen ist nicht klar, ob sie vielleicht sogar noch leben. Bob bleibt stehen, er kann nicht mehr weiterlaufen, ohne auf jemanden drauf zu treten und er will die womöglich noch Lebenden nicht einfach liegen lassen. Hinter uns hören wir die Riesenflugmaschine brummen. Sie hält auf uns zu und sprengt nach und nach den Graben.

Diese Leichen waren doch gerade eben noch nicht hier, wir sind doch kurz zuvor genau hier entlanggekommen? Ich traue meinen eigenen Sinnen nicht mehr und rufe Legba an, mir einen Blick auf die wahre Natur des mich Umgebenden zu gewähren. Gerade höre ich noch, wie Evelyn auf Bob einredet, um weiterzugehen, doch in dem Moment öffnet mir Legba die Augen und mein Herz bleibt beinahe stehen.

Nichts ist so wie es scheint. All die Maschinen und Waffen und Körper und sogar die gesamte Landschaft existieren nur in unseren Köpfen, stattdessen sitzen wir in den Fängen eines Dämons, der hier in einem grausamen Spiel verlorene Menschenseelen gegeneinander kämpfen lässt und sich an der Gewalt und dem Hass ergötzt. Das riesige Flugschiff ist nur eine Hand dieses Wesens, dessen Tentakeln sich überall um uns herum erstrecken. Keine Richtung macht mehr Sinn, doch irgendwo im Zentrum der Leere sehe ich ein Haus, ein Feuer und höre ein paar Mädchenstimmen. Hat es uns direkt in die Sphäre eines Petro-Loa verschlagen, von dem ich noch nie gehört habe?

Als Legbas Pfeife erlischt, versucht Bob gerade, die zweite grelle Lampe der Flugmaschine abzuschießen, nachdem das mit der ersten wohl gut funktioniert hat. Doch diesmal verbrennt der Feuerstrahl der Vorväter einen Mann und beschädigt die Kanzel so stark, dass noch weitere Menschen in die Tiefe stürzen. Ich spüre fast, wie der schreckliche Geist der Gewalt jubelt und erkläre meinen Freunden, was mir offenbart wurde. Es ist schwer für sie, all das zu begreifen, da sie niemals so viel Zeit mit Kesha verbracht haben, die mir so viel erklärt hat. Aber ich mache ihnen klar, dass wir unbedingt Gewalt und Hass vermeiden müssen, da der Geist davon zehrt.

Als ich erkläre, dass die Menschen verflucht und eigentlich schon tot sind, lässt Flip den Soldaten fallen, der ängstlich aufkreischt. Gerade erkläre ich Flip, dass diese armen Seelen ungefährlich sind, da fangen die ganzen Leichen plötzlich an, im Matsch zu versinken. Oder eigentlich eher, sich in Matsch aufzulösen. Auch der fallengelassene Mann droht vom Matsch verschlungen zu werden, doch Flip greift geistesgegenwärtig zu und zerrt ihn zurück. Es sieht so aus, als würde die Erde nochmal versuchen, nach dem Mann zu greifen, lässt dann aber ab und ich stelle mir vor, wie sich die Tentakeln des Dämons zurückziehen.

Dankbar schaut der Soldat zu Flip auf. Ethan hat eine Idee aufgrund meiner Erklärungen und bittet Evelyn, den Menschen schöne Symbole aufzumalen, wie Blumen und Herzen. Gerade geht sie auf den Soldaten zu, da erstrahlt dieser mit einer göttlichen Wärme, löst sich in Licht auf und versinkt in Flip, was Evelyn mit einem konsternierten “Das ist jetzt komisch” kommentiert. Flip erklärt verdutzt, dass seine Schmerzen plötzlich verschwunden sind [permanenter Schaden geheilt].

Für einen kurzen Moment sehen wir uns in einem grasbewachsenen Graben, es duftet nach Blumen und es herrscht Stille. Nichts ist mehr von all dem Schlachtenlärm zu hören, der uns gerade noch die Ohren betäubt hat. Evelyn pflückt Blümchen.

Doch lange ließ sich der Geist der Gewalt offenbar nicht vertreiben. Erst ist wieder der Wind zu spüren und der Himmel wird grauer. Und mit einsetzendem Geschütz-Donner in der Entfernung fängt auch der Graben wieder an zu modern, wird grau und schlammig und düster.

Der Metallmann lässt Musik erklingen, ein Vorväter-Lied, bei dem es um die Kraft der Liebe geht [Benny]. Um uns herum bleibt der Graben grün und voller frischem Gras. Offenbar sind auch Rada-Aspekte um uns, die wir stärken und damit den Dämon zurücktreiben können.

Die Geschwister haben weitere Ideen: Ethan erzählt, dass früher eine weiße Fahne ein Symbol des Friedens war. Daraufhin nimmt Evelyn weiße Tücher aus Verbandsmaterial und bindet es an ein Holzstück, das im Graben lag. Während sie daran bastelt, wachsen kleine Triebe aus dem vormals toten Holz. Das ist ein gutes Zeichen! Flip stellt das Fähnchen nach oben auf den Rand vom Schützengraben und nutzt die Gelegenheit, einen Blick auf die Umgebung zu riskieren. Es sieht trostlos aus, alles ist zerstört und wieder sind Leichen auszumachen. Doch von dem Fähnchen breitet sich Verbesserung aus.

Evelyn verziert alles mit Herzchen, sogar Flips riesige Hände, und schreibt ihm “in Liebe und Frieden” auf den Arm. Um uns ist es friedlich, doch in der Ferne sind Schüsse und wieder Schreie von Schmerz und Wut zu hören.

Mein Instinkt zieht mich nach “Westen”, das fühlt sich mehr nach dem Zentrum, dem Haus in der Leere an. Vielleicht können wir dort entkommen? Wohin wir uns auch bewegen, alles sieht trostlos aus. Doch wenn wir dorthin kommen, ist es nicht mehr ganz so schlammig, grau und schrecklich. Die Musik und unsere Fahne helfen!

Vor uns sind Stimmen zu hören. Aus einem Seitengang tritt ein Mann mit einem Gewehr, der bei unserem Anblick erschrickt. Evelyn streckt ihm ihren Blumenstrauß entgegen und geht auf ihn zu. Sichtlich irritiert richtet er sein Gewehr auf uns und sagt mit starken Akzent: “Wer seid ihr? Parole!”. Durcheinander antworten Flip “9. Legion” und Ethan “aus Sisone”. Ich erinnere mich an das, was Legba mir gezeigt hat und bin mir sicher, dass es eigentlich egal ist, was wir sagen. Ich sage, dass wir zum Helfen hier sind.

Daraufhin fragt der Mann nach Essen und als ihm Evelyn eine unserer Rationen gibt, nimmt er das Gewehr herunter und geleitet uns in den Seitengang des Grabens. Wir kommen an einem ausgemergelten Wachposten vorbei, dem er einen Teil der Ration zuwirft. Weiter geht es in einen unterirdischen Raum, in dem es erbärmlich stinkt. Drei Soldaten sitzen an einem Tisch und springen ängstlich auf, als sie uns erblicken. Sie sind lächerlich bewaffnet mit einer Pistole, einem Säbel und einem Messer.

Im Raum stehen noch vier Pritschen mit Verletzten. Einem fehlt das halbe Gesicht, einer hat beide Arme verloren, einer schreit immer wieder auf. Auf einer Pritsche liegt nur noch ein Torso mit Kopf, ob der überhaupt noch lebt, ist nicht zu erkennen. Die Soldaten erzählen etwas vom “gottverdammten Frankreich.” Vor zwei Monaten hätten sie abgeholt werden sollen. Jetzt seien sie verloren, von den Deutschen überrollt.

Wieder rufe ich Legba an, mir einen Blick in die Welt der Loa zu erlauben und sehe nur Geister des Schmerzes und der Hoffnungslosigkeit um mich herum. Dies ist eine harte Prüfung der Loa.

Robin schaut mich verzweifelt an, er hat sich einen der hoffnungslos Verletzten angesehen und weiß nicht, was er tun soll. Es ist schwer für ihn zu glauben, dass nichts so ist, wie er es sieht. Ich erkläre ihm, dass der Versuch der Behandlung schon wirken kann.

Flip nimmt ein Vorvätergerät, um Wasser zu reinigen. Der Metallmann hat es mir einmal erklärt. Als die verfluchten Seelen das saubere Wasser trinken, wird die Stimmung besser. Einer erzählt, dass er aus London kommt, doch irgendwie ist er sich nicht so sicher.

Mit einem metallischen Klok-Klok kommt eine Granate in den Raum geflogen und wir alle versuchen irgendwie davon zu springen. Außer Bob, der sich direkt darauf wirft. Ein furchtbarer dumpfer Knall ertönt und der Metallmann wird in zwei Teile zerrissen, doch damit hat er die gesamte Energie der Explosion geschluckt. Als wir uns verdutzt aufrichten rankt sich ein strahlendes Licht um die Teile des Metallmanns und er setzt sich wieder zusammen. Flip, der sich nach draußen gerettet hatte, sieht fünf Soldaten, die gerade Gewehre durchladen, doch das göttliche Licht von Bob kommt zu ihnen und löst sie auf. Eine wohlige Wärme breitet sich aus und irgendwie sieht der Metallmann weniger kaputt aus als vorher.

Ich schaue mich im Raum um, die Bahren und Tische sind noch da, doch sehen sie aus, als wären sie lange verlassen. Bei den Bahren sind Blumen gewachsen. Bob geht zu den Blumen und greift dazwischen. Dort liegt eine Dose, auf der ein Zeichen zu erkennen ist, das auch auf dem Metallmann eingeprägt ist. Er sagt, es wäre das Zeichen seines “Herstellers” [Nanitenschwarm, zu Reperaturzwecken zu injizieren].

Auch Flip entdeckt etwas, als er sein Survival-Kit wegpackt, und er ist sich nicht sicher, ob es schon vorher bei seiner Ausrüstung war. Es ist eine kleine Holzfigur, ein Pferd mit sechs Beinen, und er erinnert sich plötzlich an ein Kind, das ihn anlacht. Er ist sich sicher, dass er ein Kind hat.

Wieder währt unsere Verschnaufpause nur kurz. Der Regen wird stärker und kälter und mit einem Mal sind wir mitten in einem Gewitter. Wie aus dem Nichts springt ein Soldat in Graben, schaut uns an, ruft auf Englisch: “Ihr müsst hier weg! Wenn es dunkel wird, dreht hier alles durch!”, drängt sich an uns vorbei und rennt gen “Osten” im Graben davon.

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