Kapitel 54: Der neue König und der rote Fluss

Systemanalyse: Umgebungstemperatur erhöht, lethaler Gehalt Kohlendioxid und Kohlenmonoxid in der Atmosphäre, visuelle Aufklärung eingeschränkt wegen massivem Gehalt an Aerosolen. Position: Tunnelsystem vorindustrieller Bauart. Ausrichtung, Geometrie, Dimension und Beleuchtung durch Öffnung in der Decke konsistent mit den Sensordaten, die zum Zeitpunkt T0-Epsilon an der Position P(T0-Epsilon) erfasst wurden. Sensordaten während des Ereignisses inkonsistent und nicht mit den bekannten physikalischen Modellen vereinbar. Ein makroskopisches Tunnelereignis mit solcher Kohärenz erscheint äußerst unplausibel, weitere Analyse notwendig, wird wegen der aktuellen Bedrohungslage mit reduzierter Priorität im Hintergrund forgesetzt.

Es hat sich etwas verändert. Als ich dieses mal runterkam, konnte ich den Himmel immer noch durch das Loch in der Decke sehen und die Schreie und der Feueratem des Drachens kommen ungehindert in dieses alte Tunnelsystem. Meine Hoffnung, dass uns diese alte Krypta Schutz gewährt, ist dahin. Immerhin werden wir auch nicht mehr von diesem König der Toten und seinen Wächtern angegriffen. Ein paar halb zerfallene Figuren sind noch zu finden. Sie sehen aus, als würden sie dort schon viele Jahre liegen, wenn mich mein Schmerz in der Seite nicht an den Kampf vor wenigen Sekunden erinnern würde.

Flip deutet in einen Gang vor uns, und sagt, dass er dort einen Durchgang gesehen hat und läuft los. Für mich sieht es eher so aus, als ob der Gang nicht weit geht und dann in einer massiven Wand endet. Bevor Flip da ist melden Bob und Ethan fast zeitgleich, dass sie aus der Richtung Klopfen und sogar ein menschliches Husten gehört haben, allerdings sehr gedämpft und übertönt vom Knistern der glühenden Steine und dem Krachen von herabfallenden Trümmern in der Halle hinter uns. Der vierarmige Krieger holt zu einem kräftigen Tritt gegen die Wand aus, dann wirft er sich plötzlich in Deckung und verstummt.

Ich trete ins Leere, die Wand ist verschwunden. Nicht nur die Wand, ich stehe plötzlich auf einem Platz. Um mich herum kann ich große verzierte Steinmonumente und bis zum Horizont steinerne Gebäude sehen. Die Wege und Plätze werden von blauen Sphären erleuchtet und alles ist mit den Kringeln verziert wie bei der Hexe und bei dem Stein, den Vater trägt. Es ist niemand zu sehen, aber ich stehe hier völlig exponiert, also werfe ich mich erstmal in Deckung. Eine tiefe Stimme ertönt, ist das in meinem Kopf oder hier draußen?
“Du wagst Dich hier herein?”
Aus einem großen Gebäude vor mir schwebt eine Gestalt mit Hirschgeweih und ein eisiger Wind und Schwärze wehen mir entgegen. In einer Hand trägt sie einen schweren Wurzelstab, in dessen Zentrum — schwarzes Nichts ist. Ich funke den anderen zu “Team Beta, ich brauche Verstärkung”, aber niemand antwortet.
Die Gestalt streckt ihre Hand aus und auf einmal (Patzer Spirit-Probe)
werde ich in die Luft gewirbelt und schwebe zu ihr hin, völlig paralysiert.
“Wieso trägst Du seine Krone, die ich ihm einst vermachte?”
“Ich bin der, der ihn besiegt hat.”
“Du hast Gwydeon besiegt?”
“Ich habe seine Kontrolleinheit zerstört.”
“Dann ist es so. Wie heißt Du?” Irgendwie ist er mit meinen Namen nicht zufrieden, weder dem, der auf meiner Rüstung steht, noch mit dem, den Vater mir gegeben hat. Er gibt mir einen neuen Namen und es fühlt sich gut und richtig an: Maeron I.
“Trage die Krone und verbreite das Wort Donn! Ruf mich zur Hilfe, wenn Du mich brauchst, aber nur, wenn Du mich wirklich brauchst!”

Erst reagiert Flip nicht auf unsere Zurufe, dann setzt er sich auf, nimmt die Krone des Totenkönigs und setzt sie sich feierlich auf den Helm, wobei sie ihre Form verändert und förmlich mit dem Helm zu einer abstrusen Technokrone verschmilzt. Im gleichen Moment wachsen zwei kleine hölzerne Statuen aus dem Boden. Sie stellen Menschen in sonderbarer Kleidung dar, wobei der eine Schwert und Schild und der andere einen Dreschflegel trägt. Mit ungewohnter Geste richtet sich Flip auf (Wunde geheilt) und verkündet: “Ich habe einen neuen Namen, Maeron I., den mir mein neuer Vater gegeben hat.”

Dons Krone kann viele Formen annehmen.

Neben mir mault Ethan, der das ganze Schauspiel nicht gesehen hat, dass wir jetzt keine Zeit für so etwas haben und er immer noch das Klopfen und Rufen hört. Daraufhin beugt sich Flip zu den beiden Holzfigürchen neben ihm und ruft etwas mit majestetischer Stimme. Im selben Moment wachsen sie auf Menschengröße heran und fangen an, sich zu bewegen. Stumm gehen sie zur Wand schlagen mit ihren hölzernen Waffen und Werkzeugen darauf ein. Steine splittern und nach einigem Gehaue hebeln die beiden Holzmänner ein uraltes, steinernes Tor auf, das nach hinten umfällt. Dann richten sie sich auf und stehen still wie Statuen.

Verblüfft und wortlos nähern wir uns dem Loch und schauen in ein altes Gewölbe, in dem die Reste von mehrere Holzsärgen stehen. Ein großer Teil der Decke ist eingestürzt und aus einem halb verschütteten Sarg können wir jetzt deutlich das Klopfen und Hilferufe hören.

In einem für ihn ungewohnten arroganten Ton sagt Flip: “So, die Tür ist auf, jetzt könnt ihr nachsehen.”
Irgendetwas stimmt nicht mit ihm und das hat Ethan offensichtlich auch gemerkt, denn er redet nun eindringlich auf Flip ein und erinnert ihn an unsere Mission und die alten Verpflichtungen. Flip zögert kurz und für einen Moment ändert sich sein Gesichtsausdruck, doch dann wieder holt er nur: “Ich habe die Tür aufgemacht, jetzt könnt Ihr nachschauen”.

Der Metallmann tritt vor, zwängt sich an Flip und seinen Holzstatuen vorbei und geht in den Raum. Er stampft an zwei zersplitterten Särgen vorbei, die den Blick auf eine völlig skelettierte und eine mumifizierte Leiche erhaschen lassen, zieht den dritten Sarg, aus dem die Geräusche kommen, unter dem Schutt hervor und reißt den Deckel auf.

Ein Mann im einem makellosen Schutzanzug (Logo: RCSG) richtet sich auf und ruft in einem seltsamen Akzent: “Na endlich kommt jemand!”. Verwirrt mustert er den Metallmann, der ihn auffordert, er solle mitkommen, wenn er überleben möchte, und bemerkt: “Das ist nicht das Übliche, was ein Wartungsroboter sagt”. Bob bestätigt: “Das ist korrekt”.

Einen kurzen Moment wirkt Flip wie früher, als er erzählt, dass die RCSG eine Forschungseinheit in der Vorväterzeit war, die Rifts untersucht haben und nutzbar machen sollten. Sie haben späteren Technologien den Weg bereitet und auch übernatürliche Fähigkeiten entdeckt. Er geht freudig zu dem Mann, legt ihm seine Pranken auf die Schultern und sagt, dass er sich freut, jemanden zu sehen, der auch gekämpft hat. Der Fremde erwidert sichtlich verwirrt: “Ich habe diese Insel erforscht”.
Sein Name sei Henry Champollion und er komme aus Frankreich. Auf unsere Frage, wo das sei, reagiert er sehr überrascht. Er nennt andere Ländernamen, von denen ich nie gehört habe. Vielleicht sind sie längst untergegangen. Kann es sein, dass er wirklich seit der Vorväterzeit Jahrhunderte hier lag?

Neben Ethan und mir schrumpfen die Holzfiguren wieder zusammen auf Püppchengröße. Was hat es bloß damit auf sich? Ich frage mich, ob sich Baron Samedi mit Flip und uns einen Scherz erlaubt oder ob Flip von einem anderen Loa der Ghede besessen ist, aber von einem Donn habe ich noch nie zuvor gehört. Auch Ethan ist in Sorge und spricht Flip nochmal auf seine Krone an, worauf der Vierarmige zu uns kommt und sich zu Ethan runterbeugt, damit der sie berühren kann. Als er näher kommt fühlen wir durch unsere Schutzanzüge eine Kälte, die uns die Kehle einschnürt. Und der Stein, der die ganze Zeit grün geleuchtet hatte, beginnt zu flackern und ich spüre, wie seine Macht schwindet.

Vielgestaltig sind die Spuren der Donn’schen Krone, …

Erschrocken weiche ich mit dem Stein zurück. Flip meint, wir bräuchten den Stein jetzt nicht mehr, wir hätten ja jetzt Donn. Doch auf meine Frage, was dieser Donn eigentlich will, sagt Flip, er wüsste es gar nicht.

Von hinten mischt sich der Fremde ein und behauptet, dass der Stein zwar Energie verliere, aber nicht wegen der Krone. Bevor er mehr sagen kann, krachen Steine von der Decke der Halle direkt neben Bob. Eine riesige rote Knospe fällte in den Raum, zerplatzt und rote Sporen verteilen sich überall im Raum. Eine dicke Wurzel, triefend vor schwarz-rotem Seuchensaft hängt herab und bewegt sich, als würde sie sich umschauen. Auch an anderen Stellen der Krypta dringen suchende Wurzeln durch die Decken und Wände. Steine und Geröll fällt herab und es ist klar, dass wir hier schleunigst raus müssen.

Der Metallmann schnappt sich Ethan und wir rennen um unser Leben. Im Augenwinkel kann ich noch erkennen, wie Flip seine zwei neuen Holzfiguren einsammelt, bevor er hinter uns her sprintet.

In letzter Sekunde können wir aus dem Loch entkommen. Als letzter kommt der Vierarmige, gefolgt von seinen zwei Holzbegleitern, die schon wieder menschengroß sind und sich stumm hinter ihrem “König” herklettern.

Hier oben sieht es trostlos aus. Vom Wald ist nichts mehr übrig, alles ist verbrannt, die Luft voller roter Sporen und überall breiten sich mutierte Holzranken aus. In Richtung Berg sehe ich noch etwas Wald, doch der Himmel rot gefärbt und auch aus dem Berg wachsen riesige, schwarzrote Wurzeln heraus. Der Stein in meiner Hand ächzt und glüht vor Schmerz.

Alles verdorbene Gewächs bewegt sich tastend und eine dicke Wurzel direkt neben uns speit eine dichte Wolke der krankmachenden Sporen über uns. Ich glaube, ohne diese Vorväter-Schutzanzüge sähen wir bald schlimmer aus als diese arrogante Katzenfrau.

Ich sage, dass wir hier schleunigst weg müssen, doch Ethan bittet uns, ihn zu Evelyn‘s Leichnam zu bringen. Der arme Kerl ahnt ja nicht, was hier los ist und als ich ihm sage, dass überhaupt keine Spur mehr von Evelyn und Robin zu sehen ist, bricht er heulend zusammen und schlägt um sich.

Da keine Bäume mehr den Blick versperren, kann ich etwas entfernt eine Stelle erkennen, wo sich vielleicht dieser Fluss entlangschlängeln könnte, so dass wir nicht ganz bis zur Klippe vor müssen. Während wir darauf zu rennen, erblicken wir den Drachen, der hinter dem Berg hervorgeflogen kommt und Feuersalven auf kleine, nicht erkennbare Dinger schleudert, die um den Berg kreisen. Dann verschwindet er wieder im Schatten des Berges.

Im nächsten Moment erlöschen kurz die gesamten Anzeigen in meinem Helm, es gibt einen Knall in meinem Kopf, ich sehe den Stein kurz aufleuchten und spüre einen Schwall der grünen Energie dieser Insel, wie sie mich durchströmt und es fühlt sich gut an. Ganz kurz ist dieser rote Wahnsinn ein bisschen zurückgedrängt worden.

Es geht leicht bergauf, doch bevor der Hügel richtig ansteigt klafft eine tiefe Spalte vor uns auf, an deren Grund ein Fluss fließt, der aus einem großen Lock tief unter uns aus der gegenüberliegenden Wand heraussprudelt. Ich bin mir sicher, dass wir dort in den Berg müssen, doch auch hier sieht alles rot und schwarz verseucht aus, sogar der ganze Fluss.

Flip nimmt stellt seine Holzfiguren vor sich und befiehlt ihnen, uns zu den Fluss-Feen zu führen. Wieder wachsen die Figuren auf Menschengröße heran und erwachen zum Leben. Stumm schauen sie sich um und nach einem kurzen Moment zeigt die eine mit ihrem Dreschflegel auf eine kleine Insel unten im Fluss, wo etwas kleines, grünliches liegt.

Wie kommen wir da bloß runter? Etwas weiter flussaufwärts steht ein riesiger Obelisk, ich glaube, da gehen Treppenstufen die Steilwand herunter. Auch der Fremde hat sie gesehen und rennt auch gleich in die Richtung los.

Gerade will ich auch in die Richtung laufen, da sehe ich, wie Flip seine schon wieder geschrumpften Figuren einsteckt, einen seiner Handschuhe abzieht und sich mit einem Messer einen Schnitt in die Hand zieht, so dass dunkles Blut in die Schlucht tropft. Dann breitet er seine vier Arme aus und eine schwarze Kälte strömt von ihm aus und: er beginnt zu schweben. Langsam schwebt er in die Schlucht hinab und landet auf einer vom roten Fluss umspülten Terasse, wo er sich im Schneidersitz niederlässt.

… aber alle Materialisierungen bleiben mit dem Tod verbunden.

Mit offenem Mund starren wir ihm hinterher, doch wir müssen weiter. Also rennen wir schnell in Richtung Stufen. Es dauert etwa 10 Minuten, dann erreichen wir ein Plateau mit dem riesigen Stein (Menjir), den ich aus der Ferne gesehen hatte. Er ist über und über mit Symbolen und Einkerbungen verziert. Und tatsächlich führt hier eine steile, in den Fels gehauene Treppe nach unten zu einer Plattform, an der Überreste von hölzernen Konstruktionen zu erkennen sind und noch zwei Holzboote rumliegen. Der Fluss ist hier etwa 20 m breit.

Henry sagt, dass die Zeichen auf dem Stein irgendwas mit Treppe und Zahlen zu bedeuten hätten und läuft dann einfach die Stufen hinunter. Nach etwa zehn Stufen klappt ein Stück Wand auf und hätte Henry beinahe in den Abgrund gestürzt. Doch der geht einfach weiter. Noch ein paar Stufen weiter schießen Speerspitzen aus den Treppenstufen. Henry verharrt kurz, fängt dann an, zu Summen, komische Geräusche zu machen und zu gestikulieren. Da erscheint bläuliches Licht an seinen Fingerspitzen, aus dem bläuliche Funken entstehen, die sich dann um ihn verteilen. Dann geht er weiter.

Die Loa sind wohl mit ihm, das sage ich auch und folge ihm vorsichtig, denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Steinplatte, die ihn fast heruntergeschubst hätte, macht die Treppe noch schmaler. Ich schlage sie vorsichtshalber ab und sie fällt in die Schlucht. In der Wand kann man komplizierte, aber deutlich verwitterte Mechaniken erkennen. In dem Moment hört man ein Klackern und einige der Speere der zweiten Falle verschwinden wieder langsam im Boden. Sieht so aus, als ob diese Fallen nicht nur einmal zuschnappen können.

Weiter unten löst Henry wieder etwas aus. Aus einem Loch, das sich über ihm auftut, ergießt sich plötzlich flüssiges Feuer über ihn. Doch die Loa sind mit ihm: Die Lichtfunken, die um ihn schwirren, formen plötzlich ein schützendes Dach über seinem Kopf. Ich rufe Bob und Ethan herunter. Wenn die Fallen sich wieder scharf schalten, müssen wir schell dort runter. Und wir müssen zusammenarbeiten, irgendwann könnte Henry weniger Glück haben.

Zehn mühsame und nervenaufreibende Minuten kämpfen wir uns diese heimtückische steile Treppe herunter, bis wir endlich die steinerne Plattform mit den zwei alten Holzbooten erreichen. Die Insel mit dem grünen Etwas liegt ein Stück flussabwärts. So wie es aussieht, müssen wir Boot fahren.
In diesem Moment ertönt aus der Höhle gegenüber ein unglaublich lautes Quaken wie von einem riesigem Frosch.

Es ist ca. 18:00.

Erbärmlich, wie langsam diese Witzfiguren diese Treppe herunter kommen.

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