
02:00 morgens.
Ich schaue mir die schön-schreckliche Kreatur im Mondschein an: mit ihren fetten Tentakeln ist sie bestimmt schwerer als ein Ochse. Wir müssen sie wohl hier liegen lassen. Zwei Haarsträhnen von ihr schneide ich mir noch ab, vielleicht kann ich sie irgendwann gebrauchen.
Flip sammelt seinen Kram ein und müde gehen wir zurück zu unserem Lager, Evelyn in der Mitte. Doch wir müssen uns beeilen, denn Robin, der auf dem Dach Wache hält, meldet über Funk, dass er einen kurzen Moment eine verzerrte Silhouette gegen das Mondlicht erblickt hat, wie ein Brodkil, der sich tarnt.
Selbstanalyse Entscheidungsalgorithmen: Haben die im Log verzeichneten Interaktionen mit einem Individuum der Spezies Homo sapiens Einfluss auf die Entscheidungsalgorithmen, wenn es darum geht die Schutzbedürftigkeit in einer Gefahrensituation zu ermitteln? Ergebnis der taktischen Entscheidungssimulation Granatenangriff auf die Individuen Evelyn und Dodo mit gleicher Wirkungswahrscheinlichkeit und Randbedingung: Effektiver Schutz nur für ein Individuum möglich: 70/30 für Evelyn…
Wir kommen bei der Unterkunft an. Ethan meldet über Funk, dass er einen schweren Schritt im Matsch gehört hat. Da Bob, der vor dem Haus gerade Wache steht, sich nicht bewegt hat, könnte das einer der Brodkils sein. Flip klettert schnell aufs Dach, um sich einen Überblick zu verschaffen und kann beim Hochklettern gerade noch einen Schemen erkennen, der über die Stadtmauer aus der Stadt springt. Wie es scheint, ist Norkron nicht mehr alleine und unsere Schonfrist könnte schon zu Ende sein. Gespannt liegen wir auf der Lauer und warten ab, ob es nur ein Kundschafter war, der nun seine Dämonenfreunde herbeiholt oder noch andere in der Stadt lauern. Evelyn räumt noch ein paar Möbel hin und her und versucht das Felisäerhaus zu sichern, aber das wird keinen Brodkil aufhalten.
Zusatzauswertung Simulationsergebnisse: Wahrscheinlichkeit für Terminierung der Einheit B.O.B. als Nebeneffekt der Schutzmaßnahme zu Gunsten des Individuums Evelyn: 15%. Dieses Ergebnis wird durch die absolute Direktive zum Schutz des Homo Sapiens erzwungen, widerspricht allerdings der Selbstschutz-Direktive. Eine Neubewertung der Direktiven unter Berücksichtigung weiterer Eingabeparameter wie durchschnittliche Lebensdauer eines Homo Sapiens, Überlebenschancen des Homo Sapiens unter den derzeitigen Umwelteinflüssen, etc., wird durchgeführt.
Durch das kleine Felisäerfenster dringt das ferne Geheule der Riesenwölfe. Sie stimmen ein altes Lied an, das Tante Kesha gesungen hat, und in dem es darum geht, wie Papa Legba mit den Wölfen Wache vor den Toren der Unterwelt steht. Der vertraute Klang und der violette Schimmer des Mondes erwärmen mein Herz. Eine freundliche, schattenhafte Gestalt mit Hut beugt sich zu mir herunter und flüstert: “Es tut sich was, verpass es nicht”.
Mit einem metallenen Klong schrecke ich hoch, ich muss eingenickt sein und bin mit dem Kopf gegen die Blechwand gestoßen. Mit zwei großen Schritten eile ich nach draußen, doch der Mond schimmert genauso silbern wie vorhin und die Wölfe heulen zwar, aber kein Lied, das Menschen schön finden könnten. War es nur ein Traum oder hat mir Papa Legba etwas eingeflüstert?
Ich klettere zu Robin und Flip aufs Dach und schaue mich um. In der Dunkelheit über dem See, dort wo die Insel sein muss, schimmert etwas blau. Jetzt sehen es auch Robin und Flip. Robin sagt, dass es von der höchsten Erhebung auf der Insel ausgeht. Robin erinnert mich an das Bild von der Insel, das wir im Hinterzimmer des Hauses mit den Felisäergeräten gefunden hatten, von dem aus Bob den Wunderkern geöffnet hat. Es ist nicht weit von hier, also gehe ich es mir anschauen.
Tatsächlich, die Linien, die sich auf der Insel kreuzen, leuchten viel stärker als zuvor und ein Pulsieren geht vom Zentrum des Bildes aus. Auch sonst hat es sich verändert, die See sieht dunkler aus, die Wellen sind höher, die Bäume auf der Insel sehen dunkler und größer aus. Ich bitte Papa Legba, mir den Blick für das Übernatürliche zu schärfen und seine Stimme verrät mir, dass die Farbe des Bildes aus den Elementen (Erde, Stein, Holz,…) der Insel hergestellt wurde und eine magische Verbindung zu der Insel besteht. Das Bild zeigt, was auf der Insel geschieht. Wir müssen es nur besser verstehen.
Das müssen die anderen sehen. Ich hänge das Bild ab, um es den anderen zu zeigen, doch sofort verblasst der Zauber. Schnell hänge ich es wieder an den angestammten Platz und, den Loa sei dank, es leuchtet wieder wie zuvor. Also rufe ich die anderen per Funk herbei. Ungeduldig betrachte ich das Bild, bis schließlich alle andern, auch eine sehr murrige Evelyn, sich in den kleinen Raum zwängen und das Bild anschauen.
Sogar der Metallmann kann die Energie erkennen, die von diesem Werk ausgeht und faselt etwas von “… stärkere Signatur als ein Fusionsreaktor …” Flip erkennt als erstes, dass das Bild nicht nur pulsiert, sondern sogar Bewegungen darstellt, so wie ein Bildschirm der Vorväter. Der Wald ändert sich und kleine Punkte sind zu erkennen, die sich bewegen oder an verschiedenen Stellen der Insel wieder auftauchen. Und das Schwarz des aufgewühlten Wassers um die Insel breitet sich aus. Evelyn prophezeit, dass das Bild vor Gefahren auf der Insel warnt. Sie glaubt, dass der Höhepunkt erst noch kommt und dass das Böse auch irgendwann das Land erreichen wird, auf dem wir gerade stehen.
Ich schlage vor, zum Wasser zu gehen und den Geist der erschlagenen Octo-Nereide zu befragen, was sie uns über die Insel erzählen kann. Während wir uns dem Ufer nähern kann ich erkennen, wie die riesigen Wölfe bei unserem Anblick die Schwänze einziehen und Platz machen.
Mit alten Tauen bilden Ethan, Evelyn, Flip und ich einen Kreis um den Kadaver und stimmen den Rhythmus der Loa an. Gemeinsam rufen wir den Geist der gerade erst verschiedenen Kreatur zurück. Sie erscheint, schillernd in allen Farben des Regenbogens, und faucht uns wütend an, insbesondere Flip, schließlich hat er sie gerade erschlagen. Doch der Vierarmige hat einen starken Willen und weist sie fauchend in ihre Schranken. Widerstrebend wendet sie sich mir zu und fragt, wer ich sei. Ich nenne ihr meinen vollen Namen, denn ich will auch von ihr die Wahrheit hören.

Ihre Geschichte beginnt viele Generationen vor der unseren. Früher sei sie schön und rein gewesen und habe mit ihren Schwestern in einem Paradies im Wasser gelebt. Dann gab es einen großen Knall und die ganze Insel und das Wasser um sie herum sei mit ihr hier an diesen Ort gekommen. Viele ihrer Schwestern seien gestorben, doch das Unheil fing erst an. Sie war längst alleine in diesem traurigen See, als sich etwas Böses von der Insel ausbreitete und das Wasser verpestete, die Fische veränderte und sie zu dem machte, was sie zuletzt war. Es überflutete auch das umliegende Land, bis Menschen kamen, die es irgendwie stoppten oder eindämmten. Was die Menschen gemacht haben, weiß sie nicht. Sie kamen mit sechs Booten, doch von der Insel kamen nur vier Boote wieder zurück, eins davon sank und die drei bedauernswerten Insassen hat sie aufgegessen. Das muss etwa ein, zwei Jahrhunderte her gewesen sein. Sie weist uns eine Stelle im Wasser, wo ein großer Stein herausragt, dort soll das Boot gesunken sein. Ansonsten soll auf der uns abgewandten Seite der Insel eine Möglichkeit sein, an der Insel anzulanden.
Die Felisäer waren lange nicht mehr auf der Insel und sie selber auch noch nie, deshalb weiß sie nicht, was dort ist. Mit dem Sturm in Raum und Zeit, der vor kurzem tobte, sind die Käfer gekommen, die selbst sie als grässliche Wesen bezeichnet.
Es wird Zeit, ihr ihre Ruhe zu lassen, nach all den Jahren des Schreckens. Ein letztes Mal fauchend fährt der Geist davon. Zwischen all der Wut und dem Wahnsinn, den dieses grausame Schicksal verursacht hat, meine ich dennoch einen Funken der ursprünglichen Anmut und Anziehungskraft zu erahnen, die die Dichter unserer Vorfahren zu wunderschönen Geschichten inspirierte.
Während ich mich aus der Trance schüttle, höre ich den Metallmann in seinem monotonen Singsang berichten, dass er die Insel einer visuellen Aufklärung unterzogen hat (mit infrared binoculars). Die Insel liegt etwa 1,5 Meilen vor dem Ufer. Auf der uns zugewandten Seite beginnt sie mit sehr schroffen Klippen, die ca. 30 m hoch sind und wahrscheinlich nur kletternd begehbar sind. Die ganze Insel ist bedeckt von sehr großen dunklen Nadelbäumen der Tannenfamilie und die höchste Erhebung in der Mitte der Insel ist ca. 100 m hoch.
An Klippenrand steht eine humanoide Gestalt, etwa menschengroß, die keine Wärmesignatur abgibt. In der Nähe konnte er eine ca. 4m große, aufrecht laufende Gestalt mit Hirschkopf und eigentartiger Wärmesignatur erkennen, die dann wieder im Wald verschwand. Weiterhin kann er normale Tiere orten, z.B. Mader und Vögel.
Nach allem, was wir gehört haben, müssen wir auch auf diese Insel. Wir müssen diese sich ausbreitende Dunkelheit stoppen, so wie es die anderen Menschen vor hunderten von Jahren auch gemacht haben. Vielleicht finden wir im Wrack des gesunkenen Bootes einen Hinweis, was zu tun ist oder was wir dafür brauchen.
Doch zuvor müssen wir uns ausruhen. Mit wechselnden Wachen (ohne Flip) überstehen wir den Rest der Nacht zum Glück unbehelligt.
Um 09:00 morgens machen wir uns bei leichtem Nieselregen auf zum nächsten Abenteuer.
(Aufstieg)
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